Ngan Shun-kau 顏純鈎 (Yan Chun-gou, geb. 1948) ist Schriftsteller, Literaturredakteur und ein erfahrener Beobachter der chinesischen Politik. Ngan wurde in Hongkong geboren und wuchs in der Küstenprovinz Fujian auf. Wie viele Jugendliche seiner Generation stürzte sich Ngan mit ganzem Herzen in die Kulturrevolution (1966-1976) und stieg bis zum Anführer einer Gruppe der Roten Garde auf. Sein neuester Roman Blutregen in meiner Jugend 血雨華年 (2019) basiert auf seinen Erfahrungen in diesem unvergesslichen Jahrzehnt, einem Kapitel der chinesischen Geschichte, das er als "mit Blut gemalt" beschreibt. 1978 zog Ngan nach Hongkong, wo er sich in der lokalen Verlagsbranche vom Schriftsetzer zum Lektor und schließlich zum Literaturredakteur hocharbeitete. Er betreute zahlreiche wichtige Publikationen, darunter eine seltene Fotosammlung mit dem Titel The Cultural Revolution Museum 文化大革命博物馆 (1995).
Im folgenden Aufsatz nutzt Ngan seinen politischen Scharfsinn, um die Bedeutung von zwei Sprichwörtern zu analysieren - yígè bāzhǎng pāi bù xiǎng 一個巴掌拍不響 (wörtlich: Es braucht zwei Hände zum Klatschen, ähnlich wie "zum Tango braucht man zwei Hände") und jiě líng hái xū xì líng rén 解鈴還須繫鈴人 (nur derjenige, der die Glocke an den Tiger gebunden hat, kann sie lösen) - die von Xi Jinping und dem Außenministerium bei zahlreichen Gelegenheiten zitiert wurden, wenn es um den Russland-Ukraine-Konflikt ging. Oberflächlich betrachtet mögen die beiden Phrasen wie einfache Klischees im Dienste der Parteirhetorik erscheinen, aber wie Ngans Lektüre zeigt, offenbaren sie viel von der verborgenen Logik der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) sowie den tief sitzenden Zynismus, der in der alten chinesischen politischen Philosophie verwurzelt ist.
- Die Herausgeber Von Ngan Shun-kau, übersetzt von Annie Ren Während seines jüngsten "Gipfeltreffens" mit Präsident Joe Biden zog Präsident Xi Jinping eine kleine List ab, indem er zwei chinesische Sprichwörter als Taschenspielertrick verwendete. Das eine lautete: "Zum Klatschen braucht man zwei Hände", das andere: "Nur derjenige, der dem Tiger die Glocke umgebunden hat, kann sie auch wieder losbinden". Biden muss von diesen beiden Sprichwörtern völlig verblüfft gewesen sein, aber er war sicherlich nicht auf dem Treffen, um sich von Xi über den Standpunkt der KPC belehren zu lassen. Sein Ziel war es, der KPC eine Warnung auszusprechen und ihr zu raten, nicht unüberlegt zu handeln. Wahrscheinlich hat er über diese "sprichwörtliche chinesische Weisheit" einfach nur gelacht. Glücklicherweise bin ich Chinesin, so dass ich das verborgene Geheimnis dieser beiden Sprichwörter lüften kann. Die Worte "Man braucht zwei Hände, um zu klatschen" versuchen, die Grenze zwischen Recht und Unrecht zu verwischen. Wenn sich zwei Familien streiten, muss es ein klares Richtig und Falsch geben. Sich auf die Seite desjenigen zu stellen, der Recht hat, und sich gegen denjenigen zu stellen, der Unrecht hat, ist das Prinzip, das die meisten Zuschauer bei der Lösung von Konflikten anwenden. Aber die Chinesen denken nicht so. Sie sind der Meinung, dass es mich nichts angeht, wenn sich Ihre beiden Familien streiten. Wenn ich eingreifen muss, um den Streit zu schlichten, werde ich keine Urteile über Recht und Unrecht fällen. Ich werde einfach betonen, dass beide Familien schuld sein müssen, denn wenn nur eine Familie im Unrecht ist, kann es keinen Streit geben. Diese schlüpfrige Haltung spiegelt natürlich den Wunsch wider, sich aus Konflikten herauszuhalten. Wenn Sie sagen, dass A im Unrecht ist, wird A als nächstes mit Ihnen streiten; wenn Sie sagen, dass B im Unrecht ist, wird B Ihnen das Leben schwer machen. Sie haben sich eingemischt, um einen Streit zu verhindern, wurden aber stattdessen in ihn hineingezogen. Wie ärgerlich! Die sicherste Methode ist also nicht zu fragen, wer Recht und wer Unrecht hat, sondern irrelevante Ratschläge zu erteilen, um die eigene Untätigkeit zu vertuschen, und dann schnell den Schauplatz zu verlassen. Aber gibt es wirklich kein Richtig und kein Falsch, wenn es um den Einmarsch Russlands in die Ukraine geht? Unabhängig davon, wie schwerwiegend die Vorwürfe sind, die Russland gegen die Ukraine erhebt, sind sie kein triftiger Grund für einen Einmarsch. Spricht die KPC nicht ständig von nationaler Souveränität und territorialer Integrität? Die Ukraine ist eine unabhängige Nation mit eigener Souveränität; sie braucht nicht die Zustimmung anderer Länder, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Die Region Donbas ist ein Teil der Ukraine. Unabhängig davon, welche Gründe Russland haben mag, kann es auf keinen Fall in ein anderes Land einmarschieren. Dies ist die wichtigste Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht im russisch-ukrainischen Konflikt. Die KPCh hat jedoch jede Diskussion über Recht und Unrecht in diesem Konflikt vermieden, indem sie nur auf den äußeren Anschein achtet und das Problem nicht an der Wurzel packt. Wir befinden uns in einem Krieg. Beide Länder haben Truppen mobilisiert und sind in Kampfhandlungen verwickelt. Nach Ansicht der KPC sind daher beide Länder schuldig und sollten mit je fünfzig Peitschenhieben belegt werden. Sie sollten aufgefordert werden, Kompromisse zu schließen und die Angelegenheit auf friedlichem Wege durch Verhandlungen zu lösen. Bedeutet dies, dass die KPC im russisch-ukrainischen Krieg tatsächlich eine neutrale Position eingenommen hat? Sicherlich nicht. Sie unterstützt Russland und ist gegen die Ukraine. Aber die Unterstützung Russlands ist in der heutigen Welt sehr unpopulär, und die KPCh möchte nicht, dass dies zu offensichtlich geschieht. Also greift sie auf diese Art von oberflächlicher Spitzfindigkeit zurück. Um sich aus der Affäre zu ziehen, beschließt sie, "einen Fuß auf beide Boote gleichzeitig zu setzen". Das mag wie ein kluger Schachzug erscheinen, aber wenn die beiden Boote in Wirklichkeit in entgegengesetzte Richtungen fahren, wird eines davon unweigerlich ins Wasser fallen. Was das Sprichwort "Nur derjenige, der die Glocke an den Tiger gebunden hat, kann sie auch wieder lösen" betrifft, so ist dies ebenfalls eine Ausrede, mit der sich die CPC vor der Verantwortung drücken will. Wir haben die Glocke nicht an den Tiger gebunden, also ist es nicht unsere Aufgabe, sie zu lösen. Das muss die Person tun, die die Glocke gebunden hat. Aber warum sollte derjenige, der dem Tiger die Glocke umgebunden hat, der Einzige sein, der sie abnehmen muss? Ganz gleich, wer die Glocke gebunden hat, jeder kann sie lösen, sofern er den Willen dazu hat. Dies ist ein weiteres Beispiel für die chinesische Taschenspielertrickkiste: Es geht mich nichts an, also lasst mich in Ruhe. Wie auch immer, wer hat die Glocke im russisch-ukrainischen Konflikt gebunden? Die Ukraine und der Westen behaupten natürlich, dass es Russland war, das den Krieg begonnen und die Glocke umgehängt hat. Russland sollte also seine Truppen bedingungslos abziehen, die Souveränität der Ukraine anerkennen und die Ukraine für ihre Verluste im Krieg entschädigen. Nach Ansicht der KPCh hat Russland jedoch Truppen entsandt, weil die Ukraine der NATO beitreten und die NATO sich nach Osten ausdehnen wollte. Die KPCh hat es wieder einmal geschafft, sich vor der Verantwortung zu drücken, indem sie die Schuld auf die Vereinigten Staaten und die NATO abwälzte, wie jemand, der "auf den Maulbeerbaum zeigt und die Heuschrecke verflucht" (um ein weiteres zeitloses chinesisches Sprichwort zu verwenden). Die Redenschreiber von Xi Jinping müssen ihren Kaiser sehr glücklich gemacht haben, als sie sich diese beiden Sprichwörter ausdachten, die er gegen Biden verwenden wollte. Aber diese Art von oberflächlicher Redeweise hat kein wirkliches Ergebnis; sie entfremdet die anderen nur und provoziert ihre Verachtung. Diese chinesische Verschlagenheit ist eine Manifestation der bäuerlichen Gerissenheit der KPCh. Aber sie entspringt auch dem Zynismus des staatlichen Konfuzianismus, für den, wie es in den Oden heißt, die "erleuchtete Weisheit" darin besteht, "sich selbst zu schützen" Dies ist zweifellos eines der rückschrittlichsten und unverantwortlichsten Elemente unseres nationalen Erbes, ein "negatives Gut". Diese zynische Sichtweise hat dazu geführt, dass wir angesichts der Realität "sorglos unseren Weg gehen", ohne über unser eigenes Handeln nachzudenken und ohne uns zu trauen, Verantwortung zu übernehmen, was zu dem tragischen Ergebnis geführt hat, dass unser Volk seit mehr als tausend Jahren zurückgeblieben ist.
Diese zynische Philosophie hat zusammen mit den politischen Manipulationen der KPCh unter der Gürtellinie und der Ignoranz der chinesischen Massen zu den perversen Praktiken des chinesischen Parteistaats geführt und ihn zum Staatsfeind der Demokratien in der ganzen Welt gemacht. Was wird geschehen, wenn China sein Schicksal weiterhin mit dem Russlands verknüpft? Russland hat die wirtschaftliche Schlacht bereits verloren, und wenn es auch den Krieg verloren hat, wird es mit weiteren Sanktionen seitens der demokratischen Nationen der Welt rechnen müssen. Selbst wenn die KPCh weiterhin kokette Blicke in Russlands Richtung wirft und Putin anfeuert, kann ein verarmtes und entfremdetes Russland ernsthaft auf die Unterstützung der KPCh zählen, um den Krieg zu gewinnen? Ich glaube nicht, dass selbst Xi Jinping einen solchen Traum zu träumen wagt: Warum sollte sich die KPCh an Russland binden und mit ihm untergehen, wenn Russland auch mit Chinas Unterstützung nicht gewinnen kann? Denn das Schicksal der beiden Diktaturen ist bereits untrennbar miteinander verbunden. Wenn die eine fällt, wird auch die andere mit untergehen. Wenn sie mit Russland bricht, wird die KPC einen langsamen Tod sterben; bleibt sie jedoch an Russland gebunden, wird sie schnell untergehen. Da der Tod so oder so ihr endgültiges Schicksal ist, hat die KPC beschlossen, ein Risiko einzugehen, in der Hoffnung, dass der Westen die Nerven verliert und sich zurückzieht. Der Westen ist sich der strategischen Bedeutung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine voll bewusst. Auch für den Westen ist dieser Krieg eine Frage von Leben und Tod. Wenn der Westen gewinnt, wird die Welt einen reibungslosen und wohlhabenden Weg einschlagen; wenn der Westen verliert, wird die Welt wieder einmal auf den Kopf gestellt. Die westlichen Politiker mögen ihre eigenen fragwürdigen und krummen Motive haben, aber wenn es um universelle Werte geht, sind sie alle solidarisch. Deshalb wird der Westen gegenüber China und Russland seine ganze Kraft einsetzen und den Feind an seinem schwächsten Punkt angreifen, ohne ihm eine zweite Chance zu geben. Biden wird bald Europa besuchen, und die Vereinigten Staaten und die NATO haben bereits herausgefunden, was für China und Russland das Entscheidende ist. Man muss nur noch entscheiden, welche Maßnahmen man ergreifen will. Mit Sprüchen wie 'Zum Klatschen braucht man zwei Hände' oder 'Nur wer dem Tiger die Glocke umgebunden hat, kann sie auch wieder losbinden' hält sich Xi für besonders clever. In Wirklichkeit ist das nur oberflächliches Gerede. Die Folgen werden wir bald sehen. Wenn der Tag kommt, an dem Putin gestürzt wird, wenn die ukrainische Armee mit Unterstützung der NATO die Verfolgung aufnimmt und Putin schließlich stürzt, frage ich mich, welche schmierigen chinesischen Sprichwörter Xi dann noch hervorzaubern wird. In Anbetracht von Xis gewohnter Sturheit denkt er, dass er dem chinesischen Volk schlimmstenfalls nur sagen wird, dass "eine reine Salatdiät gut für die Gesundheit ist". Das heißt, er wird weiterhin verbale Tricks anwenden, um jegliche Kritik zu entkräften, und wenn das nicht klappt, meint er, er könne einfach in den sauren Apfel beißen und ihn schlucken. Das ist eine ähnliche Logik wie die von Mao, als er den Westen mit der Möglichkeit eines Atomkriegs herausforderte und sagte, dass selbst wenn die Hälfte der chinesischen Bevölkerung ausgelöscht würde, immer noch 300 Millionen Chinesen übrig bleiben würden. Am Ende wird es jedoch das chinesische Volk sein, das den bitteren Preis zahlen muss. Aber wird der chinesische Parteistaat noch standhalten können, wenn Russland fällt? Jeder kennt die Antwort auf diese Frage. Ursprünglich veröffentlicht auf Ngan Shun-kau's Facebook. Der Übersetzer dankt Linda Jaivin, John Minford und Esther Klein für ihre klugen Ratschläge zu Fragen der Übersetzung.
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Der ehemalige Anführer der Roten Garde und heutige Literaturredakteur Ngan Shun-kau entschlüsselt die Bedeutung der beiden chinesischen Sprichwörter, die Xi Jinping und das Außenministerium in ihren Kommentaren zum Russland-Ukraine-Konflikt verwenden.